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Dienstag, 4. November 2014

Der Rote Teppich der Belle Epoque

Der hier zitierte Artikel aus dem Frühjahr 1914 illustriert die in der Belle Epoque herrschende wirtschaftliche und kulturelle Bedeutung der Mode. Zeitschriften und Journale berichteten regelmässig über die neuesten Modetrends und zwar anhand von Bildern der damaligen Stilikonen Schauspielerinnen wie Sarah Bernhardt, Opernsängerinnen, Damen der feinen Gesellschaft und der damaligen Entsprechung von It Girls.

Besonderes Augenmerk wurde aber den grossen Pferderennen von Ascot, Auteil, Derby, Epsom und Longchamps geschenkt. Was dort getragen wurde, galt als der letzte Schrei. Die Pferderennen waren die Belle Epoque Version des heutigen Roten Teppichs bei Filmpremieren und Award Shows. Ein Überbleibsel dieses Phänomens ist das jährliche Auftauchen der Hutmode beim Rennen von Ascot in den Medien wenn gleich es jetzt weniger um Trends als die Verrücktheiten der (Neu-)Reichen geht.

Die neuesten Schöpfungen der Pariser Mode

Auteil, die westliche Vorstandt von Paris, die durch eine Festungsmauer vom reizenden Bois de Boulogne abgeschieden ist, hat den grossartigsten Pferderennen, die im Frühjahr stattfinden, seinen Namen gegeben. Die Rennen von Auteil bieten der Pariser Damenwelt, der „halben“ und der ganzen, den willkommenen Anlass, sich in den geschmackvollsten und feinsten Erzeugnissen der Bekleidungskunst vorzustellen. Mit einem wahren Raffinement werden alle Vorzüge der persönlichsten Erscheinung von den auserlesensten Meistern des Faches herausgehoben, und was an neuen Geweben, Farben und Federn erschienen ist, wird in künstlerischer Vollendung mit der schönen Trägerin zu einem stilvollen und reizenden Gesamtbild vereinigt.

Mit der "halben" Damenwelt sind natürlich die Geschöpfe der "demimonde" gemeint, die sich immer hart am Rande des Schicklichen bewegten oder auch jenseits davon. Der Begriff geht auf Alexander  Dumas zurück, der damit die elegante, aber ruchbare Welt der Künstler, Kurtisanen und Lebemänner im Paris Mitte des 19. Jahrhunderts umschrieb.

Die ersten Modehäuser der Weltstadt wetteifern, dem guten Geschmack voranzueilen und ihm die Bahn zu weisen und sie bieten alles auf, um beim Rennen von Auteil mit Ehren zu bestehen. Aber nicht reich, nicht verschwenderische und nicht überladen, sondern, zart, verführerisch und mitunter auch blendend, das sind die Eigenschaften, die ein Beherrscher der Mode seinen Erzeugnissen zu geben sucht. Die jetzige Modefarbe heisst natürlich „Tango“, ein intensives, ins Braunrote fliessendes Orange. Die Modebilder, die wir hier wiedergeben, entstammen der glänzenden Schau in Auteil vom 29. März dieses Jahres. „Modetorheiten“ wird mancher sagen, aber wie viel Erwerb von Industrie hängt an dieser Heerschau von Mode.

König der Pariser Modeszene war  Paul Poiret (1879-1944), auch le Magnifique genannt. Seine Entwürfe waren elitär und teuer, weshalb die Gräfin Tarnowska auch nur Kopien besass.  Poiret hatte die Frauenwelt noch vor Chanel vom Korsett erlöst, seine oft stark orientalisch beeinflussten Entwürfe machten das steife Untergerüst unnötig. Zu seinen berühmtesten Schöpfungen gehörten die Haremshose die Lampenschirm-Tunika und der Humpelrock. Die Dame links und die Dame rechts tragen vom Humpelrock inspirierte Modelle.

Der Tango hatte seinen Siegeszug in Europa um 1912/1913 angetreten, natürlich von Paris aus und zum Teil gegen erheblichen behördlichen Widerstand. Der Tango wurde, wie seinerzeit der Walzer, als sittenwidrig und anrüchig betrachtet. Trotzdem oder wohl gerade deshalb setzte ein wahrer Tango-Boom ein: In Paris gab es Tes dansantes und in London Tango Teas. Die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg gelten als erste Blützeit des Tango in Europa. Der Tango wird zudem für zahlreiche modische Neuerungen verantwortlich gemacht und tatsächlich galt Orange als die Farbe des Tango. Eine logische Erklärung hierfür konnte ich nicht finden. Eventuell stellte man im Französischen eine etymologisch nicht korrekte Verbindung zwischen Tango und Tangerine (Mandarine) her  ob Pantone Tango der hier beschriebenen Farbe nahe kommt, kann ich nicht sagen.

Vom Pelzjäger im kalten Norden bis zum Seidenzüchter im warmen Süden, vom Webstuhl bis zur fernsten Hütte der Spitzenklöpplerin dringt dieses pulsierende Leben der Mode. Alle liefern so ihre Erzeugnisse dazu, um der neuesten Mode zum Sieg zu verhelfen und  wer von ihr nicht berücksichtigt wird, hat schwer unter ihrer Laune zu leiden. Wie viel Versuche wurden schon gemacht, sich unabhängig von der Mode zu machen, sie herüberzuziehen nach London, Berlin oder Wien. Aber sie lässt sich nicht herbei, auszuwandern, denn überall fehlt ihr das Hauptelement, die hübsche und chicke Pariserin mit ihren lachenden Augen, ihrer schlanken Gestalt und ihrem graziösen Gang. Pariserin und Mode sind eins geworden und werden es auch wohl noch recht lange bleiben, trotz Reformbestrebung und Konkurrenzneid der übrigen Grossstädte, die selbst jede tonangebend sein möchte.
 
Dieser Abschnitt illustriert eindringlich die wirtschaftliche Verflochtenheit, die dieses erste globale Zeitalter auszeichnete. Ebenfalls zu spüren, wenngleich in spielerischer Form ausgedrückt, ist ein weiteres Merkmal der Epoche: der ausgeprägte Nationalismus. Grosse Modehäuser gab natürlich in anderen europäischen Hauptstädten (vor allem London) und dass um die Vormacht auf dem lukrativen Markt gerungen wurde, ist nicht weiter überraschend. Ob es wirklich die Pariserin war, welche Frankreich die modische Vormachtstellung sicherte, sei dahingestellt. Frankreich hatte sich bereits im 18. Jahrhundert als Modezentrum etabliert. Das Klischee von der Pariserin als ultimative Verkörperung von Stil und Eleganz wurde wohl um diese Zeit geboren und hat bis heute zahlreiche Revolutionen und Kriege überdauert.
Schweizer Illustrierte Zeitung Heft 15/1914


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